Vorfall in England

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Anja
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Vorfall in England

Beitrag von Anja »

Geduldig bis zum Tod

Eine alte Frau ruft den Krankenwagen - und nichts passiert.


Burgin


Sie wollte keinem zur Last fallen. Als Lady hat man bescheiden zu sein, nicht fordernd, allenfalls bittend. Clarice Burgin, aufgewachsen in Derby im Herzen Englands, hat das als junges Mädchen so gelernt, sie ist immer eine Lady gewesen, und jetzt, mit 86 Jahren, würde sich daran nichts mehr ändern. Nur keine Umstände machen.
Man kann das altmodisch nennen, aber Tatsache ist, dass Mrs. Burgin ihre neun Kinder in diesem Sinne erzogen hat, sehr britisch eben. Der Einzige, bei dem das mit der Zurückhaltung nicht so geklappt hat, der auch mal laut werden kann, ihr Sohn Stephen nämlich, der jüngste, machte gerade Urlaub in Spanien. Es war Mitte August an einem Samstag, als die stille Mrs. Burgin ihren Sohn Stephen sehr gebraucht hätte.

Es ging ihr nicht gut. Schon am Morgen hatte sie sich schlapp und fiebrig gefühlt, das Atmen fiel ihr schwer. Aber deswegen gleich jemanden anrufen? Mrs. Burgin zögerte.

Vor ein paar Jahren war sie in eine betreute Wohnung nach Ripley gezogen, rund 15 Kilometer vom Zentrum der Stadt Derby entfernt. Der Pfleger, der sonst regelmäßig vorbeischaute, würde heute, am Samstag, nicht kommen, deshalb telefonierte Mrs. Burgin dann doch Hilfe herbei. Dorothy, ihre Tochter, erschien gegen elf, sah die Blässe auf dem Gesicht, fühlte den Schweiß, sagte: "Du bist krank, Mum", und rief kurz nach Mittag die Hausärztin an.

Es dauerte noch einmal eine Stunde, bis die Ärztin erschien, eine Lungenentzündung diagnostizierte und die alte Frau ins Krankenhaus einweisen wollte. "Muss ich wirklich?", fragte Mrs. Burgin, aber sie wehrte sich nur matt. Für 14.18 Uhr verzeichnet der Computer des East Midlands Ambulance Service den Anruf: Ein Krankenwagen solle Mrs. Burgin ins Derby City General Hospital bringen.

Der East Midlands Ambulance Service ist zuständig für vier Grafschaften: Derbyshire, Nottinghamshire, Leicestershire und Rutland. Der Dienst hat 1515 Mitarbeiter, 421 davon sind für den Patiententransport zuständig, 84 besetzen die Leitstelle. Es gibt 533 Fahrzeuge sowie zwei Helikopter.

Dorothy, die Tochter, sagte den anderen Geschwistern Bescheid. Auch Stephen, der Spanien-Urlauber, erhielt einen Anruf nach Benidorm.

Von Mrs. Burgins Haus bis zum Hospital sind es etwa 15 Kilometer, von Benidorm nach Derby rund 1400, die Anfahrt zu den Flughäfen nicht eingerechnet. Nachdem er mit Dorothy telefoniert hatte, stellte sich Stephen vor die Ferienanlage des Aparthotels Europa und wartete auf den Bus.


Aus der "Süddeutschen Zeitung"


Stephen, 41, und seine Freundin hatten sich den ersten Urlaub seit langem geleistet, eine Woche in der Bettenburg von Benidorm, mehr war nicht drin. Zu Hause betreibt Stephen einen kleinen Reinigungsservice, da kann man nicht lange fortbleiben.

Um 16.40 Uhr ging sein Flug nach Birmingham, kurz vorher telefonierte er noch mal: "Alles klar bei euch?" Sein Bruder war dran: "Mum ist noch zu Hause, der Krankenwagen war noch nicht da." "Dann mach denen Dampf", sagte Stephen.

In der Wohnung in Ripley saßen mittlerweile die anderen acht Geschwister beisammen. Jeder konnte jetzt sehen, wie schwach die Mutter war, dazu brauchte man keinen Arzt mehr.

Der Krankenwagen kam nicht.

"Wir sind gleich bei Ihnen", sagte der freundliche Mann vom Notruf. "Höchstens noch eine Viertelstunde. Sie sind Nummer zwei auf der Liste."

Notrufe fallen in drei Kategorien: "lebensbedrohlich", "nicht lebensbedrohlich" und "dringender Anruf eines Arztes". Wenn es um Leben und Tod geht, ist die Ambulanz innerhalb von acht Minuten vor Ort, normalerweise jedenfalls. Bei dringenden Anrufen eines Arztes sollen die Krankenwagen nicht mehr als 15 Minuten brauchen, so will es die Vorschrift. In fünf Prozent der Fälle darf es etwas länger dauern.

Die Burgin-Kinder ließen sich vertrösten. Sie riefen noch einmal an, ließen sich wieder vertrösten, bekamen von der Hausärztin die Direktwahl des Ambulanz-Notrufs und versuchten es abermals. Doch als Stephen um 19 Uhr am Abend in Birmingham sein Handy einschaltete und das Gepäck vom Band pflückte, war seine Mutter immer noch zu Hause, immer noch Nummer zwei auf der Liste, angeblich.

Die Notrufnummer führt in ein Callcenter, bei jedem Anruf war ein anderer Mitarbeiter dran. Keiner wusste, was die anderen zugesagt hatten und warum der Krankenwagen nicht gekommen war, aber alle waren freundlich: "Eine Viertelstunde noch, dann sind wir da."

Warum also haben die Kinder ihre Mutter nicht einfach ins eigene Auto gesetzt? In zehn Minuten hätten sie im Krankenhaus sein können.

"Wissen Sie", sagt Stephen, "so sind wir nicht erzogen. Es kann ja sein, dass es diesmal stimmt mit den 15 Minuten. Außerdem hätten wir den Einsatz bezahlen müssen, wenn der Krankenwagen vergebens kommt." Lieber keine Umstände machen.

Abends, um Viertel nach zehn, nach acht Stunden und 1500 Kilometern, traf Stephen am Krankenhaus ein - 30 Minuten früher als seine Mutter.

Clarice Burgin ließ sich keinerlei Groll anmerken, sie bedankte sich höflich bei den Krankenschwestern, dann wollte sie nur noch schlafen. Am nächsten Tag erlitt sie einen Schlaganfall und fiel ins Koma. Wenig später starb sie.

Nun ja, sagt der Sprecher des East Midlands Ambulance Service, so etwas könne durchaus vorkommen: Wenn ein Notruf der Kategorie "lebensbedrohlich" eingehe, "dann kann die Bearbeitung von ärztlichen Einweisungen zurückgestellt werden". Er hat sein Bedauern ausgedrückt, eine Untersuchung versprochen und eine Entschuldigung auch. Und im Fernsehen sagte der Sprecher, dass er persönlich bei Stephen anrufen werde - "sobald die Sendung zu Ende ist".

Bis heute hat sich niemand bei Stephen gemeldet.

ANSBERT KNEIP


© DER SPIEGEL 40/2003

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Ganz shcön heftig finde ich *kopfschüttel*



Jutti
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Beitrag von Jutti »

einfach nicht zu fassen, mehr kann ich dazu nu nit sagen
aber glaub nicht, Anja, dass dies dir hier nicht passieren könnte..........

Jutti



Starbreeze
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Beitrag von Starbreeze »

Da fällt einem wirklich nichts mehr zu ein . .. ?( Unfassbar . . :wall



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doedl
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Beitrag von doedl »

Hm

also der Krankenwagen kommt in Deutschland sicherlich schneller..... aber die Bescheidenheit und die andere Seite, die das ausnutzt, die findet man hier sicherlich auch.

Ich weiss nicht warum ich eine Familie habe, die ständig irgendwelche Unfälle und Krankheiten hatte, aber meine Erfahrungen mit diensthabenden Ärzten, Krankenhäusern etc. waren nicht immer nur gute. Wenn ein Mediziner einen doppelseitigen Schädelbruch bei einem Kleinkind übersieht- ein anderer trotz permanenten Kaffeesatzartigem Stuhl immer noch nicht auf eine Einweisung ins Krankenhaus kommt, dann kommen schon Bedenken über die Qualität der hiesigen Gesundheitsfürsorge auf.

Kein System ist perfekt- ganz klar- aber diejenigen, die nicht auf ihre Rechte pochen, die werden in unserem System sicherlich die Dummen sein

Gruss Doedl

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Wir müssen die Änderung sein, die wir in der Welt sehen wollen- Mahatma Gandhi

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