Nichtsesshaft

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johannes
Beiträge: 3704
Registriert: Sa 17. Nov 2001, 23:53
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Nichtsesshaft

Beitrag von johannes »

Im Jahre 1992 kam er als erster Bewohner in unser Haus. Sein letzter Aufenthaltsort war eine Bank im Park, bevor er ins Krankenhaus eingeliefert wurde, damit ihm mittels eines Skalpells die Kleider vom Leib geschält werden konnten. Sein Fall erregte so viel Aufsehen, daß sogar die Zeitung einen Bericht brachte.

Der Alkohol, bester "Freund" der Entwurzelten, hatte ihn gezeichnet. Er hatte ihn aus seiner Familie gerissen und seinem Beruf - er war Lehrer - ein frühes Ende bereitet. Es schien, daß das Leben nicht mehr allzu viel für ihn bereit hielt. Der Kontakt zu seiner Familie wurde bis auf eine Tochter nie mehr richtig hergestellt. Zu tief waren wohl die Verletzungen der Vergangenheit.

Durch gemeinsame Absprachen und Vereinbarungen wurde der Herrscher Alkohol in seine Schranken verwiesen. 3 Flaschen Bier am Tag waren das Limit. Mit dieser Regelung war es möglich, sein Leben so weit zu normalisieren, daß er nach einigen Jahren das Heim verlassen konnte und zunächst in einem Zimmer, später in einer eigenen 2-Zimmer-Wohnung seine neue Freiheit genießen konnte. Er kam regelmäßig zum Essen und ließ seine Wäsche von uns waschen. Natürlich sorgten wir weiterhin dafür, daß seine Wohnung immer einladend und sauber blieb.

Auf diese Weise wurde ein ganz "normaler" Pensionär aus ihm. Sein Betreuer kümmerte sich um seine Finanzen und unterstützte ihn, wo es nötig war. Er fand Freude an langen Spaziergängen und Beobachtungen in Feld und Flur. Eines seiner Geburtstagsgeschenke war ein Fernglas, das zu seinem beständigen Begleiter wurde. Urlaub machte er mit den Bewohnern unseres Hauses. Mal auf der Schwäbischen Alb, mal in der Lüneburger Heide.

Eines Tages, ich fuhr mit ihm eine neue Hose kaufen, fragte er mich, ob es wohl machbar wäre, daß er den Ort seines Wirkens noch einmal sehen könnte. Ich fragte ihn, ob wir das gleich machen sollten. Als seine Augen zu leuchten anfingen, war es keine Frage mehr. Wir fuhren ins Herz des Odenwaldes nach Michelstadt. Er lief all die Wege, die er einst beschritten hatte. Schließlich lenkte er seine Schritte über den Stadtgraben.

Als wir an ein Haus kamen, meinte er, daß er da mal gewohnt hat. Eine Frau arbeitete im Garten. Er meinte, daß da jetzt wohl Fremde drin wohnen würden. Doch die Frau kannte ihn - es war seine Schwester. Wir wurden eingeladen, ins Haus zu kommen und es wurden einige Gedanken ausgetauscht über vergangene Zeiten. Glück strahlte aus seinen Augen.

Eine ehemalige Mitarbeiterin, jetzt selbst Rentnerin, wohnte mit ihm im gleichen Hause und sah immer wieder nach ihm. War das Wetter mal zu schlecht, machte sie ihm Frühstück oder Abendbrot, je nach dem, was nötig war. Dafür erzählte er ihr alle Neuigkeiten aus unserem Hause. Es war eine interessante, abwechslungsreiche Beziehung unterschiedlichster Menschen.

In der letzten Woche fiel ihm der Weg den Berg hoch immer schwerer. Einmal ließ er sich sogar hinauffahren. Zu einer Bewohnerin unseres Hauses meinte er, daß er seine 78 Jahre spüre. Entgegen seiner Gewohnheit war er bereits am Samstagmorgen rasiert im Heim erschienen. Sonntag früh erschien er nicht zum Frühstück und wir riefen bei der ehemaligen Mitarbeiterin an, sie möge doch einmal nach ihm sehen. Als sie in seine Wohnung kam, lief der Fernseher. Er saß in seinem Fernsehsessel, ein Handtuch in seiner linken Hand, der Kopf auf seine Brust gesunken. Im ersten Moment sah es aus, als ob er schlief.

Bei näherem Hinsehen sah man seine blauen Finger. Eine Berührung gab Gewißheit - er war eingeschlafen. Eingeschlafen, wie er es sich immer gewünscht hatte - vor dem Fernseher. Sein Bett war nicht berührt. Alles war geordnet an seinem Platz. Seine dritte Flasche Bier war gerade erst angebrochen, als er sein Leben aushauchte. Er hat seinen Frieden gefunden.

Johannes



schnecke2003
Beiträge: 469
Registriert: Mo 2. Jun 2003, 00:42

AW: Nichtsesshaft

Beitrag von schnecke2003 »

Hallo Johannes

ich habe beim lesen tränen in den augen gehabt.ihr habt es mit eurer hilfe geschaffen diesem mann einen schönen lebensabend zu verbringen,er ist in ruhe eingeschlafen.mit eurer hilfe hat er es geschafft von dem alkohol wegzukommen..es ging ihm gut.
ich bin zutiefst berührt über so etwas schönes.

Schnecke



t-rex
Beiträge: 474
Registriert: Fr 18. Mär 2005, 10:52

AW: Nichtsesshaft

Beitrag von t-rex »

Es ist schön, zu lesen, das ein Mensch noch eine Chance bekommt.
Ich bin ebenfalls tief berührt.

:) ein etwaszeitlichimstressputzwütiger t-rex :evil:


:liebe verliebt und verheiratet :evil:

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